Die Brüsseler Choreografin setzt nicht nur pädagogisch das Erbe der bejartschen Schule fort - ihre ganze Arbeit ist ein spiralförmige Weiterführung des choreografisch Bereits erreichen, das durch ihre Umsicht und Präzision unverwechselbar, eben a la De Keersmaeker erscheint. Im Theater und im Film so zu Hause wie im Tanz, ist es dieser genaue, manchmal minimalistisch wirkende Blick, der weniger einen neuen Stil als eine präzise, quasi molekulare Sicht auf den Körper ermöglicht.
Ich erinnere mich lebhaft an eine Vorstellung der "Goldberg Variations" des amerikanischen Choreografen Steve Paxton in Brüssel. Ich wollte hinterher noch kurz mit ihm sprechen, aber das war unmöglich: Anne Teresa De Keersmaeker war mir zuvorgekommen. Es berührte mich damals, dass sie wie eine junge Verehrerin oder eine Choreografin, die sich erst noch beweisen musste, stundenlang, wie mir schien, an seinen Lippen hing. Dieser Abend in Brüssel war nicht das einzige Mal, dass ich merkte, wie neugierig, ja lernbegierig De Keersmaeker sich die Arbeiten anderer wie William Forsythe, Pina Bausch, Trisha Brown oder Jonathan Burrows anschaut. Mehr noch: die Spuren dieses Anschauens und die Gespräche mit ihnen lassen sich auch offen in ihren eigenen Arbeiten nachweisen. Um bei Paxton zu bleiben: In "Toccata" oder in dem Solo, das sie für Vincent Dunoyer kreierte, sind deutliche Spuren ihres Interesses für dieses Werk nachweisbar. Und doch wird niemand, wenn er eine neue Arbeit von De Keersmaeker sieht, je daran zweifeln, dass es ihre eigene Arbeit ist, wie deutlich die Verweise oder Einflüsse auch immer sein mögen. Die Choreografin stellt uns vor das Paradox, dass es trotzdem nicht einfach ist aufzuzeigen, wodurch diese Erkennbarkeit entsteht. Auf formaler Ebene ist sie sicher nicht evident.
Zweifellos gibt es, oberflächlich betrachtet, Gebärden und Bewegungen, die man als typische "De Keersmaeker-Ticks" bezeichnen könnte. Kein Choreograf hat so oft eine Roll-Fall-Bewegung oder das "auf Knien über die Bühne rutschen" benutzt wie sie. Auch der kleine Lauf um die Bühne oder die weit fächernden Arme kehren immer wieder, sogar wenn sie für eine klassische Kompanie choreografiert wie bei "The Lisbon Piece". Diese charakteristischen Bewegungen könnte man darum als eine Art Signatur betrachten, mit allen Implikationen. Eine Signatur ersetzt nie das Werk selbst, sie ist nur eine formale Zueignung, die dem Werk nichts hinzufügt, höchstens seiner Perzeption. Das zeigt sich nur allzu deutlich in der Tatsache, dass diese Bewegungen sehr oft von anderen nachgeahmt werden, ohne jemals Choreografien zu liefern, die man auch nur im Entferntesten mit dem Werk von De Keersmaeker selbst verwechseln könnte.
Wenn man jedoch die Gesamtheit ihres OEuvres in Augenschein nimmt, dann sind es nicht diese formalen Konstanten, die auffallen, sondern gerade die Unterschiede. Man kann nicht umhin festzustellen, dass das Vokabular, seine Technizität und kompositorische Komplexität im Lauf der Jahre nicht nur enorm zugenommen, sondern sich auch gründlich verändert haben. Der Dialog mit dem Werk anderer Choreografen und der Anteil der Tänzer spielen dabei sicher eine große Rolle. De Keersmaeker ist ja keine Choreografin, die Originalität anstrebt, die eine Tanzsprache entwickeln will, die es noch nie gegeben hat. Im Gegenteil. Von Anfang an betrachtete De Keersmaeker ihre choreografische Arbeit als ein Handwerk. Es geht ihr nicht um die individuelle Erneuerung oder um den Ausdruck dessen, was noch nie gesagt wurde. "Aber letztendlich stellt man doch fest, dass man nach und nach die rules and laws des Fachs lernt. Und merkwürdigerweise konnte ich oft feststellen, dass diese für alle Disziplinen des Theaters in hohem Maß dieselben sind. Man ist schließlich immer wieder mit der Organisation von Raum und Zeit, mit der Energie von Menschen beschäftigt", merkt sie selbst in einem Gespräch an.1
Ein scheinbar so widersprüchliches Werk
In ihrer Arbeit zeigt De Keersmaeker in der Tat die grundsätzliche Bescheidenheit einer, die glaubt, dass sie noch viel zu lernen habe und dass sie sich immer noch verbessern könne. Sie studiert andächtig das Material, das viele verschiedene Quellen liefern, und verarbeitet es in ihrem Werk. Und das lässt sich dann eher wie ein Gewebe oder ein Text lesen. Viele Einflüsse werden darin auf persönliche Weise verknüpft und erlangen so eine neue Bedeutung, ohne ihren ursprünglichen "Geschmack" zu verlieren oder ihre Herkunft zu verleugnen. Darum könnte eine rein formale oder technische Analyse des Werks von De Keersmaeker zu dem verkehrten Schluss kommen, dass es nicht eine, sondern mehrere De Keersmaekers gibt. Es war auch lange Zeit ein Allgemeinplatz der Kritik, dass es mindestens zwei Arten von Arbeiten innerhalb des OEuvres gibt: einerseits die rein tänzerischen, beinah mathematisch ausgearbeiteten Kompositionen, für die in "Rosas danst Rosas" der Ansatz geliefert wurde, und andererseits die mehr expressionistischen, theatralen Arbeiten, deren Genealogie bei "Asch" oder "Elena's Aria" beginnt. Diese augenscheinliche Zweiteilung wird durch die bemerkenswerte und außergewöhnliche Tatsache verstärkt, dass De Keersmaeker zwar vor allem als Choreografin arbeitet (oder dafür gehalten wird), aber dass ihr OEuvre alle Theaterdisziplinen und sogar noch mehr umfasst. Sie hat sich nicht nur als Theater- und Opernregisseurin entfaltet, sondern war darüber hinaus auch Regisseurin der Filmaufzeichnungen ihrer eigenen Produktion "Achterland". In zahlreichen Arbeiten, besonders in den Collagen wie "Erts" oder "I Said I", ist gar nicht mehr deutlich, von welchem Genre man eigentlich sprechen kann.
Solche Einteilungen des Werks in einen theatralen und einen tänzerischen Teil, und darüber hinaus jede rein formal-technische Analyse, lassen jedoch außer Acht, dass der Begriff "OEuvre" - als die Gesamtheit von Arbeiten, die zusammen ein Bedeutungsganzes bilden - par excellence auf De Keersmaeker anwendbar ist. Ihr Werk entwickelt sich nicht ruckartig oder in forschungsartigen Serien, wie das zum Beispiel bei Trisha Brown der Fall ist. Im Gegenteil. Um ein Bild zu nehmen, das De Keersmaeker selbst oft benutzt und auch bei der Konstruktion ihrer Choreografien anwendet: ihr OEuvre entwickelt sich in einer Spirale.
Viele Stücke nehmen auf die eine oder andere Weise Bewegungsmaterial, Motive und Stimmungen wieder auf, die schon in früheren Arbeiten benutzt wurden. "Drumming" zum Beispiel ist ein Stück, dessen choreografische Struktur und Bewegungsmaterial direkt aus "Just Before" abgeleitet sind. "Drumming" ist jedoch eine "rein tänzerische" Arbeit, während in "Just Before" die Sprache eine sehr wichtige Rolle spielt und gleichsam die Bewegung auslöst. In "Just Before" stecken dann wieder choreografische Verweise auf "Amor constante", ein früheres Werk, das seinerseits wieder am Ende die Tänzer in den Kostümen von "Ottone, Ottone", einer Opernregie nach Monteverdi, auftreten lässt. Dies ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Querverbindungen, die das älteste Werk mit dem jüngsten verbinden. "Das Werk von Anne Teresa De Keersmaeker gleicht einem nie endenden work in progress. (...) Ständig weist das Werk von De Keersmaeker und Rosas nach vorn, auf eine zukünftige Produktion und - letztendlich - auf jene natürlich unmögliche Arbeit, die nach einer noch unbekannten dialektischen Logik alles, was gemacht und gezeigt wurde, inklusive der beiläufigen Neubearbeitungen oder Verschiebungen, in sich aufnehmen kann. Dieses utopische Ziel wird wahrscheinlich (...) bleiben, was es ist: ein immer weiter hinausgeschobener Punkt in der Zukunft", schrieb Rudi Laermans. 2
Selten sind in der Tat die Momente, in denen man den Eindruck hat, dass wirklich gänzlich neues Material gezeigt wird. Um die Evolution der Tanzsprache von Rosas zu skizzieren, könnte man das Bild eines Schneeballs benutzen: Während der Ball weiter rollt, akkumuliert er ständig mehr Masse, sodass er riesengroß, überwältigend werden kann. Aber im Kern dieser enormen Kugel steckt noch immer das anfängliche Basismaterial. Und doch gibt es im OEuvre Arbeiten, die nicht nur bereits Bestehendes weiterentwickeln.
Sondern Momente, in denen wirklich eine Paradigma-Verschiebung stattfindet. Das war zum Beispiel der Fall bei "Small Hands (Out Of The Lie Of No)", einem Duett, das De Keersmaeker mit Cynthia Loemij tanzte. Dieses Duett hatte fast den Status einer Neubewertung des Basisvokabulars der Kompanie, knapp zwanzig Jahre nach "Fase", der Produktion, in der De Keersmaeker die Richtung für die frühen Arbeiten festlegte. Gegenüber der harten, fast provozierend geballten Struktur, der extremen Begrenzung der Bewegungsauswahl jenes Werks, stellt "Small Hands" eine poröse, einladende, offene Struktur vor, in der viele choreografische Stimmungen zugleich mitklingen. Der Frontal-Aufstellung von "Fase" stellt "Small Hands" die verletzliche Aufstellung eines théâtre en rond gegenüber.
Die verzaubernde Komplexität der Spirale
Es ist kein Zufall, dass in diesen "kleinen" Arbeiten, Solos und Duetten, eine Richtung für das Bewegungsmaterial festgelegt wird. Wie im Weiteren zu sehen sein wird, ist der Schlüssel zur Eigenart des Werks von Rosas, der auch die unmittelbare Erkennbarkeit ausmacht, die Tatsache, dass das Werk gleichsam ein Logbuch der persönlichen Entwicklung der Choreografin selbst ist. "Small Hands" ist ein "Eichpunkt", weil es bei einer persönlichen Geschichte Maß nimmt. Es ist sowohl ein Rückblick wie ein Neubeginn; in der Negation aller formalen Eigenschaften des ältesten Werks taucht dieses Werk doch wieder auf. Diese Entwicklung muss in doppeltem Sinn verstanden werden: Es geht einerseits um ihre wachsende Einsicht in die Möglichkeiten, eine choreografische Struktur zu entwerfen und aus einem primären Bewegungssatz Variationen zu entwickeln.
Wer zum Beispiel die verzaubernde Komplexität von "Rain" sieht, begreift, dass hier die strukturelle Offenheit von "Rosas danst Rosas" nicht aufgehoben, sondern gleichsam zu einem Niveau transzendiert wird, wo die Struktur nicht mehr die Rüstung ist, die die wuchernde Emotionalität im Zaum halten muss, sondern selbst zu einer Quelle emotionaler Verzückung wird. Es geht jedoch andererseits auch um die persönliche Entwicklung der Choreografin vom Mädchen zur erwachsenen Frau, mit aller Melancholie und Freude, die das beinhaltet. So gesehen, ist die Spiralform des OEuvres als Ganzem erst wirklich sinnvoll: Sie ist, bewusst oder unbewusst, die Darstellung der einfachen Wahrheit, dass die Körperlichkeit des Menschen auch die Voraussetzung der Möglichkeit ist, die verschiedenen Lebensstadien miteinander zu einem bedeutungsvollen Ganzen zu verbinden, in dem die Vergangenheit stets in der Gegenwart präsent ist, auch wenn sie faktisch vorbei ist. Es ist diese Erfahrung, diese Akkumulation, die im Tanz wieder zum Ausdruck gebracht werden kann.
Nirgends wird dieser zweite Aspekt deutlicher als in dem Film "Tippeke", der die Produktion "Woud" einleitet. Wir sehen dort Anne Teresa De Keersmaeker selbst, die tanzend und singend durch einen Wald läuft, während sie den Kinderreim "Tippeke" aufsagt. "Tippeke" ist die Geschichte eines Männchens, das nicht nach Hause gehen will, wenn es nicht getragen wird. Nicht die Geschichte selbst ist wichtig in diesem Film, sondern die Art, wie Anne Teresa De Keersmaeker sie präsentiert. Als ob sie sich der Kamera überhaupt nicht bewusst wäre.
Ihre fantasievollen Bewegungen, während sie sich aufgeregt einen Weg durch den Wald bahnt, sind auf entwaffnende Weise kindlich. Eine überbordende Fantasie, eine noch kaum in Worte gefasste Sehnsucht einer jungen Frau erhalten hier implizit eine Form. So weist der Film auf die Emotionen der nachfolgenden Tänze. In diesen Tänzen löst sich dasselbe Bewegungsmaterial in der Interpretation der anderen von der ursprünglich Ausführenden, und erhält, im Zusammenhang mit der Musik von Wagner, Berg und Schönberg eine neue Bedeutung, die, vielleicht nicht zufällig, auch einen melancholischen Beiklang hat.
Das heitere Mädchen
"Tippeke" ist aber die sprichwörtliche Ausnahme von der Regel. Denn wenn es stimmt, dass man das OEuvre wie ein Logbuch lesen kann, dann stimmt es gleichzeitig auch, dass De Keersmaeker sich mehr als jeder andere der Unmöglichkeit bewusst ist, direkt über sich selbst zu sprechen, nicht im normalen Leben und schon gar nicht auf einer Bühne. Die Frage, wovon das Werk von Rosas implizit handelt, ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen demjenigen, der sich zeigt, und demjenigen, der zuschaut - nicht nur im Verhältnis zwischen Performer und Publikum, sondern auch im Verhältnis zwischen denjenigen, die sich auf der Bühne selbst befinden, wie auch im Verhältnis mit einem abwesenden Dritten. Dieses Thema ist natürlich der zentrale Punkt jeder Theaterdisziplin, die sich selbst ernst nimmt, aber bei De Keersmaeker ist es seit den frühesten Anfängen mehr als das: ein Prüfstein. Schauen und angeschaut werden stehen ja für zwei fundamentale Aspekte des Seins. Auf der einen Seite ist das stete Verlangen, von dem anderen gesehen zu werden. Die Erkenntnis, dass man im eigentlichen Sinn nicht besteht, wenn man nicht gesehen wird. Auf der anderen Seite steht die Erkenntnis, dass gesehen zu werden auch bedeutet, geprüft und beurteilt zu werden. Dies sind Themen, die etwa ab "Bartók/Aantekeningen" sehr genau umschrieben werden. Für einen anderen zu existieren, macht die Spannung zwischen dem Bewahren einer imaginären - weil von einem anderen abhängigen - Eigenheit und der Erkenntnis, dass diese Eigenheit auch immer gesellschaftlich vermittelt ist, kompliziert.
Eine einzigartige Produktion wie "Stella", in der die Persönlichkeiten der Tänzerinnen bis zum Äußersten ausgebeutet wurden, thematisiert diese "Sackgasse". Wenn De Keersmaeker über die rules and laws des Theaters als Ausgangspunkt spricht, dann meint sie in gewissem Sinn auch oder sogar vor allem diese Spannung zwischen dem, was sie bewegt, und der Art, wie man das zeigen, zur Sprache bringen kann. In späteren Arbeiten wie "I Said I" und darüber hinaus in der gesamten Reihe von Produktionen, in denen sie zusammen mit ihrer Schwester Jolente das Verhältnis zwischen Sprache, Musik und Tanz untersucht, bildet dieses Thema den roten Faden. Es gibt jedoch keine Möglichkeit, sich selbst direkt zu zeigen, immer muss der Umweg über die Konvention, die Sprache, die Bühnentradition genommen werden. Wer das nicht tut, wird entweder obszön und unverständlich, oder er reduziert die Komplexität der Erfahrungen zu einer banalen Geschichte, einer Aneinanderreihung von Klischees, die die Beweglichkeit, das stete Verschieben von Erfahrungen plattdrücken oder sogar verschwinden lassen. Das sind Fehler, die viele Tanztheater machen. De Keersmaeker nicht. Zahllose Male betonte sie in Interviews ihre Scheu, die Dinge direkt beim Namen zu nennen. "Ich habe schreckliche Skrupel, diese Dinge so direkt auszusprechen, weil ich meinen eigenen Gefühlen auch so misstraue." 3
Affekte und Effekte
Die letzte Produktion von Rosas, "(But If A Look Should) April Me", stellt in gewisser Weise eine Ausnahme innerhalb des OEuvres dar, weil hier zum ersten Mal eine bestehende Geschichte, das Ballett "Les Noces", mehr oder weniger direkt aufgenommen und dargestellt wird. Obwohl: Der eigentlichen Kerngeschichte gehen eine lange Ein- und Ausleitung voraus, die die Geschichte abändern und nuancieren. Implizit steckt jedoch in vielen Arbeiten von Rosas der Kern oder die Andeutung einer Geschichte oder einer Erfahrung. Die Geschichte wird nur nie direkt sichtbar, sondern von vielen Standpunkten aus auf verschiedene Arten erzählt, sodass eher eine Atmosphäre oder ein Gefühl greifbar wird als eine Geschichte, und es bleibt immer die Aufgabe des Zuschauers, diese Geschichte zu Ende zu bringen und zu interpretieren. Aus dieser hermeneutischen Sichtweise heraus werden überraschende und grundlegende formale Kennzeichen ihres OEuvres plötzlich sehr deutlich.
Die fundamentale Eigenart dieses OEuvres besteht darin, einzukreisen, was nicht direkt zu benennen ist. Dies erklärt auch, warum innerhalb des OEuvres bestimmte Fragmente und Bilder von Produktion zu Produktion wieder aufgenommen und bearbeitet werden. Es geht immer wieder um eine vorläufige Feineinstellung, das Ausarbeiten einer Geste, die niemals zu ihrer definitiven Form kommen kann, und darum für eine endlose Neubetrachtung geeignet ist. Erst im Fortwirken lösen sich die verschiedenen Bedeutungsebenen von einem ursprünglichen Affekt oder Effekt der Choreografin und erhalten eine wirkliche Mehrdeutigkeit.
Auf diese Weise wird auch deutlich, warum die Zweiteilung in theatrale und tänzerische Werke eigentlich eine falsche Unterscheidung ist. Es geht darum, dass die Abwechslung verschiedene Aspekte des gleichen Basismaterials ans Licht bringt. Wenn man die Unterscheidung trotzdem machen will, kann man feststellen, dass der fast systematische Wechsel zwischen "theatralen" und "tänzerischen" Produktionen bei näherer Betrachtung nicht zufällig ist. Wo eine theatrale Arbeit dem Persönlichen mit allen dazugehörigen Risiken zu nahe kommt, konzentriert sich eine tänzerische Arbeit auf das Werk selbst, auf die nicht ich-bezogene Aufgabe des Strukturierens und Organisierens. Die tänzerischen Produktionen sind Ausdruck der Freude an der Arbeit selbst, der Freude an der steten Erforschung der Möglichkeiten des Mediums Tanz. Oder: Wenn eine theatrale Produktion eher das subjektive Erleben einkreist, dann steht das Tänzerische für einen fast unpersönlichen drive, den Ausdruck einer vitalen Bewegung. Es ist der gleiche Wechsel, der dafür sorgt, dass die eine Rosas-Produktion manchmal chaotisch verläuft - die erste Version von "Erts" übertraf diesbezüglich alles- und eine folgende ein Musterbild von Reinheit und Struktur ist.
Wirkliche Wahrheit
Eine der auffälligsten formalen Facetten der Arbeit von Rosas steht scheinbar im Widerspruch zu der Auffassung, dass die Choreografin die zentrale Figur ihres eigenen OEuvres ist, und wurde hier bis jetzt noch nicht besprochen. Es ist die Feststellung, es kaum eine andere Gruppe gibt, in der die Tänzer als lebendige Wesen und sogar als reine Körper, und nicht als abstrakte Marionetten, eine so wichtige Rolle spielen. Das war von Anfang an so. In "Rosas danst Rosas" sehen wir die Tänzerinnen nach einem intensiven Bewegungszyklus erschöpft keuchend auf der Bühne stehen. Über diese sehr streng und elementar aufgebaute Choreografie sagt De Keersmaeker selbst, dass es gerade die zwingende Struktur des Werks selbst ist, die es den Tänzerinnen erlaubt, etwas von selbst zu zeigen. Ohne diese zwingende Struktur würde die Eigenheit der Tänzerinnen unsichtbar werden, während jetzt jede kleine Abweichung höchst bedeutungsvoll wird. Eine Produktion wie "Stella" wurde sogar ganz um die persönlichen Charakterzüge der Tänzerinnen herum aufgebaut. Aber auch in neueren Arbeiten bleibt die Performerin, mit all ihren Eigenheiten, ausschlaggebend für den "Geschmack".
Wenn spätere Wiederaufnahmen mit einer neuen Besetzung manchmal einen ganz neuen Eindruck hinterlassen, dann ist das nicht, wie bei vielen Choreografen der Fall, weil man es mit einer abgeschwächten Kopie des Originals zu tun hat, sondern weil die Produktion wirklich auf das Maß der neuen Performerinnen zugeschnitten ist. Die Abweichungen mögen gering sein, aber es gibt sie und sie sind wohlüberlegt. Dass die Tänzerinnen gleichsam von der Seitenlinie, aber für das Publikum sichtbar, zuschauen, was die anderen machen, ist sogar eine feste Figur im OEuvre. In einer Produktion wie "Toccata" liefert diese Figur selbst den Schlüssel zur Interpretation der Aneinanderreihung von choreografischen Miniaturen zur Musik von Bach. Das ist kein Zufall. Es ist die Verwirklichung, die Demonstration von De Keersmaekers zentraler Eingebung, dass man, auch wenn man über sich selbst sprechen will, das nur über andere kann. Das Regieführen und Choreografieren, verstanden als das Umkreisen, nicht als das Festlegen dessen, was man zur Sprache bringen will, funktioniert nicht anders, als sehr genau zu schauen, wie die anderen sind und handeln. In der Organisation in Zeit und Raum dessen, wie ein anderer sich zeigt und wie er andere betrachtet, wird implizit sichtbar, wie die Choreografin schaut und zeigt. Aber auch, wie man als Zuschauer schaut und präsent ist. Das geht nur in einer theatralen Situation, in der weder der Ausführende noch der Zuschauer der Erkenntnis entkommen können, dass niemand, der auf der Bühne steht, "wirklich" das ist, was er darstellt, aber trotzdem das ist, was er ist. Genau darum erzählt er eine Wahrheit. Aber eine, die nie definitiv ins Reine geschrieben sein wird.
1 "Genieten van verandering", ein Interview mit Pieter T'Jonck in: Etcetera 67, März 1999
2 "De totale Podiumkunst van Rosas - I said I, Rudi Laermans in: Etcetera 68, Juni 1999, S. 65
3 "De vechtlust van een kwetsbare", Interview mit Klaas Tindemans und Peter De Jonge in: Etcetera 9, Januar 1985, S. 19
It is not the ultimate goal of the choreographer Anne Teresa De Keersmaeker to develop her own, original dance language. Regarding her work as a craft, she eagerly learns from colleagues such as William Forsythe, Pina Bausch or Trischa Brown and although there are certain gestures and movements that might superficially seem 'typically De Keersmaeker', on the whole it is not the similarities but the differences that stand out in her oeuvre. Her alteration between pure, almost mathematical dance compositions and more expressionist, theatrical works is a process of illuminating the same basic material in different ways: through an impersonal drive in the former case and through subjective experience in the latter. Her work develops in a spiral, accumulative fashion, in a never-ending work in progress towards a utopian future gesture or production, with many pieces taking up movements, motifs or moods from earlier works. It presents the simple truth that human physicality makes a meaningful whole of the different stages of life - the past is always contained in the present. De Keersmaeker is keenly aware of the impossibility of talking directly about oneself. The implicit content of her Company Rosas' work is the relationship between performer and spectator. A thematic thread running through a number of her productions, which look at the relationship between language, music and dance, is the tension between maintaining an independent concept of character and the realisation that this character is always socially defined, through convention, language and theatrical tradition. Many Rosas works convey the atmosphere or feeling of a story or an experience without making it explicit, leaving it up to the audience to complete and interpret the story. The dancers of the Rosas ensemble are very much living beings who can often be seen watching their colleagues on stage from the wings. The conditions for their performing and observing, created by the choreographer's organisation of space and time, reveal how the choreographer sees and presents herself as well as how the audience is present and active as spectators. This is only possible in a theatre situation and tells a truth that can never be definitively resolved.